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Mein erstes Korsett (1870)

von einer Dame aus Paris, aus: La Vie Parisienne, vom 11. Juni 1870, die Seiten 464-5, gekürzt

Manchmal versuche ich, mir verschwommene, aber trotzdem unsterbliche Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen. Einer meiner ersten Wunschträume war es, ein Korsett zu tragen. Jedes Pariser Mädchen über zwölf träumte davon - damals zumindest - heute scheint es ja als natürlich betrachtet zu werden, daß man mit falschen Hüften, falschen Waden und falschen Haaren zur Welt kommt. In meiner Kindheit, die noch nicht allzu lange her ist, waren wir weniger verwöhnt, solche Raffinements beschränkten sich auf bauschige Unterröcke, die, zusammen mit kleinen Miedern ohne Stäbchen, unsere Unterwäsche bildeten. Wir fühlten uns sehr wohl, waren geschmeidig und beweglich, aber genauso gut geformt wie ein Stück Holz, worunter die schönen Damen sehr litten...

Ich werde mich ewig daran erinnern, welcher Tortur ich als Kind so oft ausgesetzt war. Ich mußte beim Abendessen immer mein Dekolleté zeigen, welches aus einem Paar kleiner, ziemlich roter Schultern und vorspringenden Schlüsselbeinen und Schulterblättern bestand; oh, wie ich meine Mutter und die anderen Damen um ihren runden Busen beneidete! Ich beobachtete, daß manche von ihnen kaschierende Oberteile trugen, denn ihre Hände, der Hals und das Gesicht sahen irgendwie anders aus... Eine Freundin aus meiner Klasse enthüllte mir dieses Geheimnis. Bisher hatte ich sie nur als Wildfang gekannt, sie hatte keine gute Figur und kleidete sich weder schick noch modisch. Eines Tages war sie völlig verwandelt: 48 cm (19 Zoll) maß sie um die Taille und hatte tolle Kurven!!! ''Was, um Himmels willen, ist denn mit dir passiert?'' fragte ich sie. ''Nichts'', antwortete sie, ''ich habe ein Korsett an.'' Da war mir alles klar. Aber zu Hause sagten sie, ich sei zu jung für eines.

Es geht nichts über eine ausgeklügelte List. Einige Monate zuvor wollte ich unbedingt eine Lorgnette, weil diese für mich Ausdruck höchster Eitelkeit, Impertinenz und Verwegenheit waren. Also gab ich vor, kurzsichtig zu sein; doch sie verpaßten mir eine Brille! Am nächsten Tag fanden sie mich kurzsichtiger denn je, ich kauerte an meinem Schreibtisch, den Kopf gebeugt, den Rücken gekrümmt, und weigerte mich hartnäckig, diese unbequeme Körperhaltung aufzugeben, trotz aller Proteste aus meiner Umgebung, trotz dieser scheußlichen Brille, trotz der Prophezeiung eines Buckels und trotz eines pinkfarbenen Bandes, mit dem mich Miß Penn, die in Sachen 'Mädchen quälen' bewandert war, an die Lehne meines Stuhles band. Selbst als ich beinahe erstickte, gab ich nicht nach. In meiner Phantasie erschien mir das Korsett als etwas, womit ich im Mittelpunkt der Bewunderung stehen würde, diese Vorstellung bestärkte mich in meinen Anstrengungen und verlieh mir die nötige Willenskraft. Schließlich zermürbte ich den Widerstand meiner Familie mit Hilfe meines Dienstmädchens, das meine Komplizin wurde. Sie sagte jeden Morgen: ''Mademoiselle ist jetzt an der Reihe. Und die erste heilige Kommunion zu empfangen ohne Korsett, das ist...nun!'' Meine Maße wurden genommen für ein Korsett. Diese Zeremonie werde ich niemals vergessen. Seltsamerweise war es ein Mann, der kam, um mir zu erklären, daß nun die Zeit gekommen sei, einem Buckel vorzubeugen und der minutiös die Proportionen meines kleinen Körpers ausmaß. Er bat um eine Woche Zeit für dieses Meisterstück, während dieser Woche dachte ich, ich würde sterben vor lauter Freude. Jeder von uns kennt dieses Gefühl der Vorfreude. Die Enttäuschung, ich spreche von dem Korsett, kam leider Gottes nur allzu schnell! Ein grauenvolles, absolut gerade geschnittenes Etwas - nur die Rückenpartie enthielt Stäbchen -, es zog meine Arme nach hinten und hatte nichts als eine elastische Korsettstange, die grauenhaft wie Gummi aussah. Und das für mich, der beim bloßen Gedanken an Gummi schon übel wird.

Kaum daß ich in dieses Gefängnis hineingeschlüpft war, hätte ich schon alles in der Welt darum gegeben, es wieder los zu sein. Sehen sie, so war das mit all meinen in Erfüllung gegangenen Träumen, mir scheint, das Schicksal wollte es so. Das Korsett wurde ceinture de grâce (wörtlich: Gürtel der Anmut) genannt, zweifelsohne deshalb, weil es mich in keinster Weise anmutig erscheinen ließ. Sie sagten, für mein Alter sei das auch gut so. All meine Proteste und meine Tränen waren umsonst. Ich hatte ein Korsett gewollt...nun hatte ich eines!

Im Zuge meiner Entwicklung wurde dieses Folterinstrument nach und nach modifiziert und arbeitete sich empor zu einem treuen Begleiter, es wurde mir zur Stütze und beinahe zu einem guten Kameraden, mit dem ich täglich lebte. Das Korsett, zuerst begehrt, dann verflucht, schließlich geduldet und anschließend für lange Zeit vergessen, wurde noch einmal einer meiner Wunschträume: aus weißem Satin, an den Rändern mit kirschroter Seide eingefaßt, an den Hüften mit Schwanendaunen gepolstert, mit silbernen Verschlüssen und das Ganze so klein, daß es in die Schachtel eines Fächers paßte. ''Wenn du heiratest, dann wirst Du so ein Korsett tragen'' sagte meine Mutter.

Daraufhin begann ich, vom Heiraten zu träumen, und in meinem Kopf waren meine Hochzeit und ein Korsett aus Satin untrennbar miteinander verbunden. Es ist tatsächlich so, daß die klarste und genaueste Erinnerung an diesen über meine Zukunft entscheidenden Morgen das Rascheln und Knistern der Seide ist, die Mlle Julie voller Respekt, ja, beinahe ehrfurchtsvoll schnürte; und die anmutige Silhouette dieses zarten schillernden Kleidungsstückes, das sich auch meiner leisesten Bewegung anpaßte. Auf den Schleier, die Orangenblüten und das Kleid hatte ich ein Anrecht, aber das Korsett bedeutete die Erfüllung eines ganz besonderen Wunsches!


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